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Einstürzende Altbauten: Zur Urheberrechtsdebatte im deutschen Buchhandel

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Bild: „Old Factory“ von Tomy – www.augensound.de (CC-BY-NC-ND)

Auf boersenblatt.net – dem „Online-Magazin für den Deutschen Buchhandel“ – hat Michael Roesler-Graichen einen für das dort angesprochene Klientel ungewöhnlichen Essay zum Urheberecht im Digitalzeitalter veröffentlicht. Unter dem Titel „Urheberrecht: Kein Denkmalschutz“ wird dem deutschen Buchhandel zur Flucht nach vorn geraten: Dem digitalen Dilemma und einer vorherrschenden Kostenlosmentalität im Netz sei durch neue Geschäftsmodelle zu entkommen, mit einem elitären Rückzug auf die Verhältnisse der Vor-Internet-Welt nichts zu gewinnen.

Roesler-Graichen verweist auf Bücher von Tim O’Reilly, Chris Andersen oder auch den jüngsten Bestseller von Dan Brown, die allesamt zum kostenfreien Download bereitstanden, bevor sie zu Erfolgsprodukten wurden. In diesen Fällen profitierte der klassische Vertrieb in physischer Form von den vorausgegangenen Zugriffen einer riesigen Zielgruppe auf die digitale Vorlage. Modernes Internet-Marketing könne auch in einer Kombination aus abgespeckter Preview-Qualität im Netz und zahlungspflichtiger gedruckter »Premium«-Qualität bestehen. Doch müssten dazu die in der Branche herrschende Fantasielosigkeit in der Urheberrechtsdebatte aufgebrochen und Glaubensgrundsätze geopfert werden.

Auf Seiten der Autoren und Verleger sei ein im Netz sich zunehmend verflüchtigender Urheberrechtsschutz als Teil unserer gesellschaftlichen (und zunehmend auch politischen) Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Mit dem Internet habe eine neue Zeitrechnung begonnen, die einen anderen Umgang mit dem Urheberrecht erfordere, althergebrachte Geschäftsmodelle stünden nicht unter Denkmalschutz. Plädiert wird für eine Aufhebung starrer Fronten, vergleichbar dem »aggiornamento« (an den Tag heranführen) des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), mit dem der seinerzeitige Reformstau innerhalb der katholischen Kirche aufgehoben wurde.

Wortwahl und Vergleich lassen bereits erkennen, mit welch mächtigem Gegenüber der Autor in Auseinandersetzung tritt. Pikant zugleich: Roesler-Graichen ist als Fachredakteur des „Börsenblatts“ bezahlter Angestellter des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Letzterer betrieb bislang intensive Lobby-Arbeit für Access-Sperren bei Urheberrechtsverletzungen und stach zuletzt gleichsam durch das Fehlschlagen seines E-Book-Portals libreka.de hervor (siehe Libreka!: Der E-Book-Flopp des Börsenvereins). Auch plädierte dessen Justiziar Christian Sprang noch Mitte Dezember in der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts dafür, die Vorratsdatenspeicherung nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern Handhabe und Umfang in der Herausgabe der gespeicherten Daten noch auszuweiten.

Sanktionen in Form von Internetsperren hält Roesler-Graichen zwar für notwendig, erachtet sie aber – ebenso wie Schutzmaßnahmen durch Digital Rights Management (DRM) – als in vielen Fällen nicht wirksam und auch nicht durchsetzbar. Das mag so manchem wenig einsichtig erscheinen. Und sicherlich ließe sich über die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Sperrmaßnahmen trefflich streiten. Ähnliches gilt in Bezug auf die Reichweite der vorgebrachten Vorschläge zur Modernisierung des Urheberrechts. Im einzelnen werden benannt:
– eine temporäre Urheberrechtsschranke für die befristete Vorschau neuerschienener Titel;
– eine Verkürzung der Schutzdauer für Fach- und Wissenschaftsbücher von 70 auf 20 Jahre;
– vergünstigte Lizenzierungen von Inhalten für Schüler und Studenten;
– sowie im Falle von verwaisten Werken die Bildung von vorangehenden Verlagsrückstellungen für die spätere, freie Nutzung.

Immerhin: All das wären Neuerungen, die den herrschenden Urheberrechts-Status-quo im deutschen Buchhandel gehörig durcheinanderwirbelten. Dabei ist Roesler-Graichen bewusst, dass es in den meisten Fällen die Autorinnen und Autoren selbst sind, die sich dem Neuen am stärksten widersetzen. Ihrer Urheberechts-Atemnot hält er unter Verweis auf die Entwicklungen in der Musikindustrie entgegen, dass gerade sie es seien, die von der »Free-Culture« im Netz möglicherweise mehr als [die] Verlage profitierten.

Zugleich ruft er den Gemeinwohlaspekt von Kunst und Kultur in Erinnerung. Künstlerische Leistungen beruhten nicht auf Genie allein, sondern oft auch auf überdurchschnittlichen Vermögensverhältnissen, einer generösen Kulturförderung oder einer großzügigen Ausstattung eines wissenschaftlichen Instituts. Davon der Gesellschaft etwas zurückzugeben, sei nichts Verwerfliches.

Insgesamt ist Roesler-Graichens Essay wohltuend zu lesen. Mit ihm wird der bislang apodiktischen Forderung nach Strafverfolgung seitens des Börsenvereins eine alternative, konstruktive Urheberrechtsoption entgegengestellt. Sein Aufruf ausgangs des Textes ist auch einer an diesen:

„Es geht darum, argumentative Blockaden zu beseitigen, Lockerungsübungen zuzulassen, die scheinbar zementierte Positionen verändern könnten. Das Unerlaubte muss nicht nur gedacht, sondern auch ausgesprochen werden. Nur so kann die Position des Autors, der immer noch an eine unumschränkte Autonomie seines Schaffens und Denkens glaubt, ins Wanken geraten. Das Internet ist – auch wenn es einem nicht gefällt – eine interaktive, kollektive Veranstaltung, an der die Gesellschaft, und auch der Urheber, nicht vorbeikommt. In der neuen »sharing culture« […] verschwinden die Grenzen zwischen Erstellern und Nutzern, verschmelzen Produktion und Konsumtion gar zum »Prosuming«.“

 
Dass ein solcher Appell nicht ohne Widerspruch bleiben würde, stand zu erwarten. Noch am selben Tag des Erscheinens meldete sich in mehreren Kommentaren Roland Reuß zu Wort. Über den Initiator des „Heidelberger Appells“ wurde bereits ausreichend berichtet. (Siehe beispielsweise Matthias Spielkamp: Open Excess: Der Heidelberger Appell.) Zuletzt trat er mit dem Ruf an die Politik, sich „für eine nationale und internationale Respektierung der geltenden Rechtslage mit allen gebotenen Mitteln der Rechtspflege einzusetzen“, als Hardliner in der Urheberrechtsdebatte hervor. (Nachzulesen in der von ihm mitherausgegebenen, zum kostenlosen (!) Download bereitgehaltenen Publikation „Autorschaft und Werkherrschaft in digitaler Zeit“. Dort: S. 19.)

An dieser Stelle aber vergaß er sich. In seinen Kommentaren fallen Worte wie „opportunistisch und prinzipienlos“, „Resultat einer Gehirnwäsche“ „getretener Quark“ (Kommentar Nr. 2), „feige“ und schließlich der Mahnruf (Kommentar Nr. 8):

„Es wäre an der Zeit für die Strategen des Blatts, einmal ihre »endgadgets« ab- und den Verstand einzuschalten (fast hätte ich gefragt: ja sind wir denn hier beim Perlentaucher und seinen mittelfristig suizidalen Abfeierungen jedes digitalen Schickimickizeugs?).“

Übersetzen wir „endgadgets“ hier einmal – auf gut Heideggerianisch – mit Endapparaturen, so wird die ohnehin klare Botschaft zur Weisung: Roesler-Graichen, ein Mann des nachgelagerten Apparates innerhalb der Hierarchien des Börsenvereins, muß nach solcher Insubordination ausgeschaltet werden. Dem Kommentar Reuß’ entspringt die kaum verhohlene Aufforderung, dem Redakteur die Entlassungspapiere auszuhändigen.

Demgegenüber kann dem Deutschen Börsenverein nur empfohlen werden, die Diskussion über das Urheberrecht im Digitalzeitalter substantiell zu führen. Denn auch in diesem Fall gilt, was in einem anderen Kontext konstatiert wird: „Over time, the web will win because it always does.“ (Jay Sullivan) Anders gesagt: Das Netz ist für all das, was sich als in digital kodierte Informationen zerlegbar erweist, das Produktions- und Distributionsmedium schlechthin. Und das ist weit mehr als gedruckter Text, Musik und Film.

Strategien zur Reterritorialisierung und Marktabgrenzung im Internet, wie sie zur Aufrechterhaltung analoger Profitabilität mittels Access-Sperren von der Interessensvertretung des deutschen Buchhandels gefordert werden, können den technischen Fortschritt nicht aufhalten. Zumindest nicht in langer Frist! Sie sind aber – geraten sie zur herrschenden Politik – geeignet, den zukünftigen Wohlstand in der Entwicklung von Nationen zu minimieren. Produktions- und Distributionsstrukturen der Vergangenheit zu konservieren, ist langfristig dysfunktional.

 
Post scriptum: Der brasilianische Schriftsteller und Bestseller-Autor Paulo Coelho stellt seit geraumer Zeit Raubkopien der eigenen Werke auf seiner persönlichen Website Pirate Coelho ins Netz. In der „Berliner Zeitung“ hat er nun seine Erfahrungen in dem ins Deutsche übertragenen Essay „Verbote sind selten eine Lösung“ geschildert. Nach Logik der Verleger müßte er sich durch solches Tun das eigene Wasser abgraben. Doch falsch, tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Der Verkauf seiner Bücher hat seitdem zugenommen. Gleichwohl legt Coelho den Finger auch in die Wunde, wenn er schreibt:

„Die Musikindustrie hat schwer darum gekämpft, Napster schließen zu lassen, nur um dann mit ansehen zu müssen, wie andere Filesharing-Portale wie Pilze aus dem Boden schossen. Das Verlagswesen sieht sich nun neuen Produkten wie Kindle, Nook, dem Sony-Reader sowie diversen Anwendungen für iPhone und Blackberry gegenüber, die es dem Autor, der früher seine[r] Bücher kostenlos in einem Blog veröffentlichte, ermöglichen, seine Werke in elektronischer Form zu vermarkten. Und so kann es passieren, dass Buchverlage – genau wie einst die Plattenfirmen – irgendwann überflüssig werden.

In Ländern, wo Filesharing verboten werden soll (in Frankreich ist dieses Jahr eine entsprechende Gesetzesvorlage durchgebracht worden)[,] werden die Autoren bald einen Wettbewerbsnachteil haben. Verbote sind selten eine Lösung. Viel klüger wäre es, die Vorteile der neuen Technologie zu nutzen, um gute Literatur zu unterstützen und zu verbreiten.

Viele sagen, dass ich mir das nur leisten kann, weil meine Bücher so hohe Auflagen erreichen. Dabei ist es genau umgekehrt: Meine Bücher erreichen so hohe Auflagen, weil ich mir Mühe gebe, meine Werke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wenn man mich heute vor die Wahl stellte, entweder für drei Millionen Dollar ein Buch zu schreiben, das von drei Leuten gelesen wird, oder ein Buch zu schreiben, für das ich nur drei Dollar bekomme, das aber von drei Millionen Menschen gelesen wird, dann würde ich mich für letzteres entscheiden. Ich bin überzeugt, dass die meisten Schriftsteller das genauso sehen.“

Als Fazit bleibt: Neben den Nutzerinnen und Nutzern sind es in erster Linie die Autorinnen und Autoren (Urheber) selbst, die von der Digitalisierung profitieren. Die Funktion der Verleger (Rechteverwerter) wird im Netzzeitalter tendenziell redundant. Tendenziell heißt: ohne die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Und das ist es, was die Verleger so nervös macht – und wofür Reuß in seiner Gleichsetzung von Schöpfer und Verwerter keinerlei Verständnis aufbringt. Als klassischer Herausgeber von Editionen gemeinfreier Autoren fühlt und verabscheut er wie ein Verleger. Wie diese ereilt ihn das Drangsal einstürzender Altbauten. Thanatos aber ist kein guter Ratgeber für die Gestaltung des Kommenden.

2 Kommentare zu “Einstürzende Altbauten: Zur Urheberrechtsdebatte im deutschen Buchhandel”

  1. […] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von Philipp Otto, iuwis erwähnt. iuwis sagte: RT @PhilippOtto: Einstürzende Altbauten: Zur #Urheberrechtsdebatte im deutschen #Buchhandel http://bit.ly/88A5fV #Urheberrecht […]

  2. […] PS: Zu Thanatos als schlechtem Berater für die Zukunft des Buchhandels siehe hier. […]