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„Bild“ – Vom Scheinriesen einer werktäglich erscheinenden Veröffentlichung (Teil I)

wandering balloons v2

Bild: „wandering balloons v2“ von maView – www.augensound.de (CC-BY-NC-ND)

Unter dem Titel „Drucksache ‚Bild‘ – Eine Marke und ihre Mägde“ ist eine neue Studie über das populistische Flaggschiff aus dem Hause der Axel Springer AG erschienen. Sie stammt von den beiden Autoren Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz – ersterer ehemals verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), letzterer vormals Chefredakteur der „Frankfurter Rundschau“. Beide sind heute freiberuflich als Berater und Experten im Bereich der Medienkommunikation tätig und haben kommunikationswissenschaftliche Lehraufträge an Hochschulen inne.

Finanziert und publiziert wurde die Studie von der zur IG Metall gehörenden Otto-Brenner-Stiftung. Im Fokus der Darstellung steht eine textuelle Auswertung der „Bild“-Zeitungsberichterstattung über die Griechenland- und Eurokrise im Frühjahr des vergangenen Jahres. Inhaltliche Zusammenhänge bewusst negierend, hatte das Blatt seinerzeit über mehrere Monate eine Kampagne nach dem Erzählmuster gefahren, die faulen Griechen lebten über ihre Verhältnisse und sollten keinen Cent vom deutschen Steuerzahler erhalten.

Diesen Analysefokus verdichtend und um generelle Befunde erweiternd, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung schon bald ein Weg eingeschlagen, der die vorgefundenen Bahnen der klassischen „Bild“-Zeitungskritik verlässt. Ein Blick auf die ganze „Bild“ zeigt Arlt und Storz zufolge, dass sie mehr ist als ein massenmediales Publikationsorgan. Das gilt sowohl für die handwerkliche Machart des Blattes und sein nach außen getragenes journalistisches Selbstverständnis als auch für das ökonomische Produkt selbst.

Angaben zu letzterem allerdings liegen nur spärlich vor. Bekannt ist, dass die Auflage von einst 5,5 Mio. Exemplaren Mitte der 1980er Jahre auf aktuell 2,9 Mio. gesunken ist. Gleichsam reklamiert der Verlag heute für sein Produkt eine nach wie vor unveränderte Reichweite von 12 Mio. Leserinnen und Lesern. In Wachstumszahlen übersetzt bedeutet das: Trotz Auflagenrückgang und eines mit der Wiedervereinigung größer gewordenen Marktes habe über die Jahre eine Steigerung der Reichweite von nahezu 190 Prozent (unter Berücksichtigung des Bevölkerungseffekts der Wiedervereinigung sogar um 216 Prozent) stattgefunden – eine nur schwer nachvollziehbare Größenangabe.

Reichweitenmessungen jedoch sind als verlagskontrollierte Publizitätskennzahlen nur bedingt von Aussagekraft. Sie enthalten immer auch ein affirmatives, beschönigendes Moment. Dennoch, offiziell gibt der Verlag keine Umsatzzahlen bekannt, generiert „Bild“ weiterhin offenbar hohe Erträge. Dies ist nicht zuletzt ein Ergebnis des Einsatzes von kommunikativen Hybridformen, einem gewollten Mix aus Inhalten, Werbung, Eigenwerbung und Merchandising. Insbesondere der Vertrieb von sogenannten Volks-Produkten (Volks-PC, Volks-Bibel, Volks-Rente etc.) hat „Bild“ in den letzten Jahren zu einer wahren Marketing- und Verkaufsmaschine werden lassen.

Seit Sommer 2002 hat das Blatt bereits 125 solcher Volks-Merchandising-Produkte in Umlauf gebracht, für deren Vermarktung entsprechende Unternehmen Beträge zwischen 0,6 und 1,2 Mio. Euro überweisen. Hinzu treten ein überbordendes Selbstmarketing in der Berichterstattung sowie eine der Welt der PR- und Werbebranche entlehnte Arbeitsweise. Jenseits des darin aufscheinenden rein betriebswirtschaftlichen Kalküls wird es selbst für informierte Akteure immer schwieriger, publizierte Beiträge anhand journalistischer Kriterien zuzuordnen und das Überspringen von Kommunikationsgattungen analytisch tiefenscharf nachzuzeichnen.

Gefangen in einem Knäuel aus populistischer Botschaft, beständiger Reizmaximierung, allgegenwärtiger Werbefinanzierung und Unterhaltung, verinnerlichtem Kosten- und Ertragsdenken sowie einer trotz Auflagenrückgangs nicht aufgegebenen Bindung an die Kaufbereitschaft des Publikums erweist sich das eigentliche Produkt Journalismus zunehmend zu einem Hindernis in der funktionalen Fortschreibung des selbstgewählten Genres. Dieses, von seinem Gründer Axel C. Springer ursprünglich als für jedermann verständliche, kostengünstige Volkszeitung konzipiert, droht, in einem Amalgam aus Pseudojournalismus und Kommerz pulverisiert zu werden.

Arlt und Storz vertreten die These, dass „Bild“ die Grenze zwischen massenmedialer Veröffentlichung und ökonomischem Produkt am konsequentesten auflöst. Ihr Resultat lautet: Der Prototyp der Massenkommunikation ist das entgrenzte, das transvestive Medium. „Bild“ entspreche als geradezu beständig journalistische Gattungsgrenzen überspringendes Produkt immer mehr diesem Prototyp. Letztlich sind damit auch Aussagen über eine generelle Entwicklungstendenz getroffen. Der von den Autoren bereits zu Mitte der Studie eingeführte negative Komparativ: Qualitätsjournalismus, Boulevardjournalismus, „Bild“, scheint mit Bedacht gewählt.

Doch bildet das nur die eine Seite des Befunds: Die andere gilt dem explizit politisch wirkenden Medium „Bild“. Hier ist es nahezu unbenommen, dass das Blatt zumindest in der breiteren Wahrnehmung einen grundlegenden Wandel vollzogen hat. Vom einst von den gesellschaftlichen Eliten und einem Großteil der politischen Klasse nur naserümpfend zur Kenntnis genommenen Außenseiter entwickelte es sich im letzten Jahrzehnt zu einem von diesen gerne bedienten Leitmedium. Gerhard Schröders vielfach kolportierte Entrückung als Bundeskanzler: „Zum Regieren brauche ich nur ‚Bild‘, ‚BamS‘ und Glotze“, proklamierte da nur einen herausgehobenen Nachvollzug dieses Bedingungsgefüges.

Der Frage danach, wie es zu dieser Entwicklung kam, suchen Arlt und Storz allerdings nicht nachzugehen. Indessen verlegen sie ihren Blick auf Aussagekonstellationen der Medienwirkungsforschung – Ableitungen aus der auch andernorts zu vergegenwärtigen, immer stärkeren Darbietung von Politik als Dramatisierung, Personalisierung und Emotionalisierung sowie damit einhergehenden Veränderungen in der Produktion und Rezeption mediengestützter Massenkommunikation selbst. Ihre zur Diskussion gestellte These lautet: Die „Bild“-Macht beruht auf einer gelungenen Selbstinszenierung.

Jene sei quasi Folge einer doppelten Vorspiegelung: Einerseits konstituiere das Blatt täglich den virtuellen Stammtisch und suggeriere diesem Zugang zu den Eliten aus Politik, Wirtschaft, Sport und Unterhaltung. Andererseits mache es den Eliten weis, stets die Meinungen und Interessen der schweigenden Mehrheit wiederzugeben, diese gleichsam zu vertreten, und rekurriere dazu auf die tägliche Reichweite. Letztere aber beruht nicht auf journalistischer Arbeit, sondern ist – wie dargelegt – das eingängige Ergebnis von ausgeklügelten Formen der kommerziellen Kommunikation.

Zu den Erfolgsbedingungen einer Illusion gehören Glauben und Erleben – sprich: Einlassung auf eine Sinnestäuschung. Solange die Eliten die Illusion nachvollziehen und ihre Beziehung zu dem Blatt im Glauben an diese ausrichten, solange wird „Bild“ den Modus der Selbstinszenierung aufrechterhalten können. In der Politik begründet hier der Faktor Angst eine nicht zu unterschätzende, bestandsgewährende Größe. Es ist die Angst politischer Akteure vor den für sie nicht durchschaubaren Spielregeln von „Bild“, darüber wann das Blatt den Daumen zum Positiven hebt oder zum Negativen senkt.

Sobald aber – so die Autoren – der Glaube an „Bild“ als Stimme des Volkes bröckelt, schrumpft auch der Riese „Bild“. Sie sprechen von „Bild“ als einem tönernen Riesen, dessen Kraftpotential – so der Subtext – dahinsinkt, desto näher ihm andere kommen. Das erinnert an den Scheinriesen Herr Tur Tur, von dem es in Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ heißt: Je weiter man sich von ihm entfernt, desto größer sieht er aus. Nur wer ihm nahe kommt, erkennt seine tatsächliche Gestalt. Handelt es sich bei der „Bild“-Zeitung demnach um einen solchen Scheinriesen?

Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz: Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihre Mägde. Die „Bild“-Darstellung der Griechenland- und Eurokrise 2010. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt/Main 2011. (pdf)

Teil II folgt.

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