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Durchs wilde Tadschikistan – Noch mehr Tacheles

Volker Beck, twitternder Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Bundestag und seit 1994 Bundestagsabgeordneter, hat sich auf dem Weg zu einer Dienstreise nach Duschanbe Gedanken zur Netzpolitik der Union, aber auch der Piraten und der eigenen Partei gemacht. Dabei scheint offenbar in der Vorstellung, schon bald durchs wilde Tadschikistan zu galoppieren, der Gaul mit ihm durchgegangen.

Unter dem Titel „Tweet, tweet, tweet, wir haben uns alle lieb“ wirft er Netzpolitikern und netzaffinen Akteuren – im einzelnen treten auf: Dorothee Bär (@dorobaer), Peter Altmaier (@peteraltmaier), Peter Tauber (@petertauber) und Frank Bergmann (@hildwin) – aus der Union vor, online Grundrechte im Internet zu simulieren, die man offline abschaffe. Beck im Wortlaut:

Es grenzt an schizophrene Züge, “offline”, also im Bundestag, die Grundrechte im Internet abzuschaffen und “online” dann so zu tun, als sei man everybodys Darling der Netz-Community.

Als Ausweis einer solchen Haltung dient ihm die Zustimmung der Union zum BKA-Gesetz (inkl. online-Durchsuchung) am 12.11.2008, der auch Altmaier und Bär ohne hörbare Kritik folgten. Bekanntlich geschah das zu Zeiten der großen Koalition, was die Sache nicht besser macht, immerhin aber erklärt, weshalb in Becks Text auch Thomas Oppermann (@thomasoppermann), twitternder Parlamentarischer Geschäftsführer der mit abzustrafenden SPD, einen Gastauftritt erhält.

Ob Beck im Flug nach Duschanbe an Anämie oder Amnesie litt, ist nicht bekannt. Erinnern wir uns aber zurück an die Zeit der sogenannten Sicherheitsgesetze. Anfang des Jahres 2002 erließ die rot-grüne Bundesregierung ein aus Bürgerrechtssicht wahnwitziges Gesetzespaket. Es enthielt erweiterte Polizei- und Geheimdienstbefugnisse, eine engere Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane, erweiterte Sicherheitsüberprüfungen in lebens- und verteidigungswichtigen Betrieben, die Ausdehnung der Telekommunikations-Überwachung, Erfassung biometrischer Daten in Ausweispapieren u.v.m.

Jede der einzelnen Maßnahmen für sich genommen, so der Bürgerrechtler und Rechtsanwalt Rolf Gössner seinerzeit in einem Interview, hatte gravierende Auswirkungen auf die Substanz der Grund- und Freiheitsrechte. Gössner weiter:

Es ist tatsächlich schon erstaunlich, dass ausgerechnet eine Bundesregierung unter Beteiligung der „Grünen“, die sich als „Bürgerrechtspartei“ verstehen, die umfangreichsten „Sicherheitsgesetze“ präsentierte, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind – ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Erstaunlich auch, dass die „Otto-Kataloge“ in Windeseile und unter weitgehender Missachtung des Parlaments zustande kamen.

Und wenn wir uns noch einmal kurz an „Zensursula“ erinnern, fällt auf, dass die grüne Bürgerrechtspartei auch in der Opposition nicht in der Lage war, geschlossen gegen Netzsperren zu stimmen. Beinahe ein Drittel der damaligen grünen Bundestagsfraktion konnte sich bei der Abstimmung über das Zugangserschwerungsgesetz am 18.06.2009 nur zu einer Enthaltung durchringen. Zwischen Außendarstellung und politischem Handeln lagen bisher also nicht nur bei CDU/CSU ein paar Meter Luftlinie.

Volker Beck kennt das Politgeschäft gut genug, um neben inhaltlichen Punkten auch taktische Erwägungen zu thematisieren. Er schreibt:

Wenn @peteraltmaier gerade Bauklötzchen staunend Twitter und das Netz erorbert und @dorobaer weiter nur darauf ist, dass sie jemand bei Twitter zur Sachertorte einlädt, lenkt das vom Wesentlichen ab: Die Union hat ein Interesse an der Optik, der Community vorzumachen, dass irgendwie alle Parteien gleichermaßen zur Freiheit im Netz indifferent bis ablehnend seien – bis auf diese Piraten.

Er befürchtet, dass die zwitschernden Protagonisten der Union die Piraten vor allem stärken wollen, um durch deren Einzug in den Bundestag nach der nächsten Wahl eine rot-grüne Regierung zu verhindern.

Den logischen Umkehrschluss, dass genau deshalb vor allem die Grünen ein taktisches Interesse daran haben könnten, die Piraten klein zu halten, formuliert Beck nicht.

Sollte das Ergebnis der nächsten Bundestagswahl sich an den derzeitigen Wahlumfragen orientieren, hätten SPD und Grüne keine Mehrheit. Für die SPD nicht so tragisch, sie könnte mit der CDU koalieren. Genau das, so Becks Befürchtung, wird von der Unions-Twitteria bewusst durch das Piraten-Streicheln vorbereitet. Die Piraten sind in seiner Lesart Steigbügelhalter für eine große Koalition gegen Freiheiten im Netz.

Da ist etwas dran. Und es ist dennoch zu kurz gedacht. Denn: Eine bei den aktuellen Prognosen ebenfalls mögliche Dreier-Koalition SPD, Grüne plus LINKE oder Piraten kommt Beck gar nicht in den Sinn. Bei beiden Varianten wäre eine Netz- oder umfassender: Bürgerrechtspolitik, wie sie Beck in Grundzügen formuliert, relativ einmütig umsetzbar, vertraut man auf die entsprechenden Initiativen und Positionen aus der jüngeren Vergangenheit der möglichen Koalitionspartner. Allerdings wären die sich im Sinkflug befindenden Grünen dann nur noch einer von zwei Kellnern für den Koch SPD. Keine schöne Aussicht, wo doch im Sommer noch über eigene Kanzlerkandidaten sinniert wurde.

tl;dr

Die Kritik des netzaffinen Volker Beck an Netzaffinen von CDU/CSU hat Bumerang-Potential.

6 Kommentare zu “Durchs wilde Tadschikistan – Noch mehr Tacheles”

  1. […] oalition, als diese die beiden Otto-Katalöge mit Beteiligung von Volker Beck beschlossen haben: Durchs wilde Tadschikistan – Noch mehr Tacheles. TwitternDieser Eintrag wurde veröffentlicht in Deutschland, Netzpolitik. Bookmarken: […]

  2. Tobi sagt:

    Liebe Kollegen, auch wenn die Grünen ohne Zweifel keine weiße innenpolitische Weste haben: das Benutzen von Twitter ist kein politisches Statement. Es ist auch keine Überraschung das Bär, Altmeier und Tauber mit Menschen aus anderen Parteien und Fraktionen nett plaudern. Das fand schon immer statt. Jeder weiß, welche SpitzenpolitikerInnen miteinander essen gehen. Die Frage ist doch, was kommt bei dem netten Geplaudere rum? CDU/CSU-Politik mit menschlichem Antlitz kann doch wohl nicht die Antwort sein. Man muss nicht den Stil von Becks Text teilen und schon gar nicht seine strategischen Ziele. Ich glaube auch nicht an eine Strategie der Union bzgl. der Piraten. Dagegen spricht schon, dass dies auf die Art und Weise gar nicht funktionieren würde. Aber die Frage wie die freundlichen KollegInnen bei der Union eigentlich zu ACTA, zu INDECT, zum Staatstrojaner, zum „Geistigen Eigentum“, zum Breitband-Ausbau, zum Freifunk, zu Sperren usw. stehen, die ist doch richtig. Die sind schließlich in der Regierung.

  3. Jörg Braun sagt:

    Lieber Tobias,

    wir schreiben ja mit keinem Wort, dass Becks Kritik falsch sei. Aber sie hat eben genug des abschließen erwähnten Bumerangpotentials. Da kann ruhig mal drauf hingewiesen werden.

  4. […] Diese Vorlage lassen sich Jürgen Scheele und Jörg Braun, Mitarbeiter der Linksfraktion, nicht nehmen und erinnern Volker Beck wiederum an die grüne Vergangenheit in der letzten Rot-Grünen Koalition, als diese die beiden Otto-Kataloge mit Beteiligung von Volker Beck beschlossen haben: Durchs wilde Tadschikistan – Noch mehr Tacheles. […]

  5. […] ist nun unter Beschuss und soll laut eines Änderungsantrages, den auch der selbsterklärte Netzpolitiker Volker Beck unterschreiben hat, komplett gestrichen […]

  6. […] hier Dieser Beitrag wurde unter Blog, Parteipolitik, Verweis abgelegt und mit Bürgerrechte, Grüne, […]