DIGITALE LINKE
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SPD-Leitantrag: Das Internet ist ambivalent, das Seelenheil biblisch

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Bild: „Engel“ von Uwe .S (*Mops) – www.augensound.de (CC)

Die SPD in der Opposition will sich gesellschaftlich neu verankern. Sie befindet sich in einem Prozess des kritischen Diskurses und der Öffnung nach außen. Das zumindest ist dem Leitantrag des Parteivorstandes zu entnehmen, der auf dem Bundesparteitag in Dresden vom 13.–15. November verabschiedet werden soll. Dort wird auch ein Neuanfang mit der Generation Internet versucht. Im Leitantrag heißt es dazu:

„Und schließlich muss sich die SPD öffnen für die neuen Kommunikationsgewohnheiten (nicht nur) der jungen Generation im Netz und für das ‚digitale Lebensgefühl’.“

Ersichtlich wird bereits mit diesem Satz: Nicht Arbeit, Technik und Ökonomie im Digitalzeitalter bezeichnen den thematischen Horizont parteipolitischer Neuerkundung, sondern das „‚digitale Lebensgefühl’“ der Generation Internet. Geradeso, als wäre der einschlägige, die SPD nachhaltig irritierende Protest gegen das von ihr mitbeschlossene „Zugangserschwerungsgesetz“ aus einem irgendwie gearteten Lebensgefühl heraus entstanden und nicht das Produkt einer sich im Netz formierenden digitalen Öffentlichkeit und ihrer wohlbedachten Argumente.

Daher sei die eher philologische Frage erlaubt: Was ist das eigentlich Lebensgefühl? Auskunft erteilt Googles Ranking-Algorithmus auf Trefferplatz 1 unter Verweis auf Rudolf Eislers „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“. Letzteres definiert Lebensgefühl wie folgt:

Lebensgefühl ist das unbestimmte Gefühlsganze, das mit den Gemeinempfindungen (s. d.) verbunden ist. Es ist, nach HÖFFDING, die Grundstimmung, die durch den »gesamten Zustand des Organismus, durch den normalen oder abnormen Gang der Lebensbewegungen, besonders der vegetativen Funktionen« bedingt ist (Psychol.2, S. 126). Vgl. Kosmisch.“

Die Wortwahl des Leitantrags vermag dieser – zugegebenermaßen willkürlichen, weil maschinell erstellten – philologischen Rückversicherung zufolge eher auf die von Verunsicherung geprägte Grundstimmung seiner Autorinnen und Autoren selbst verweisen. Ein unbestimmtes Gefühlsganzes im normalen oder abnormen Gang der Lebensbewegungen markiert die Disposition einer von den Herausforderungen in der digitalen Welt verstörten SPD, nicht aber die einer selbstbewusst hervortretenden digitalen Öffentlichkeit.

Ein Zaudern und Lamentieren durchzieht auch die weiteren netzpolitischen Erwägungen im Leitantrag. Der Freiheit des Netzes werden Bedrohungen durch dieses gegenübergestellt, das Internet als ambivalent charakterisiert, die Irrungen und Wirrungen der SPD in Sachen „Zugangserschwerungsgesetz“ nicht aufgelöst. Zunächst bezogen auf eine „Initiative ‚Demokratie und Freiheit’“ heißt es:

„Das Internet ist für dieses Vorhaben ebenso zentral wie ambivalent, weil es gleichzeitig zur Entgrenzung und Beschleunigung von Öffentlichkeit beiträgt. Unbestritten aber ist es der Ort einer der wichtigsten Freiheitsbewegungen unserer Zeit. Das Internet stärkt die Entfaltungsmöglichkeiten jedes oder jeder Einzelnen ebenso wie die weltweite Entwicklung demokratischer Inhalte. Wir wollen die nie dagewesenen Beteiligungsmöglichkeiten für demokratische Prozesse nutzbar machen und unsere demokratischen Mechanismen auch für die digitale Welt öffnen.

Die neuen Möglichkeiten für Freiheit und Transparenz im Netz sind gleichzeitig auch Quelle neuer Bedrohungen. Und so sind Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung zu den neuen Herausforderungen der Bürgerrechtspolitik geworden. Für uns ist es Aufgabe des Staates, die Freiheit im Internet zu erhalten und zu sichern. Es gilt das Kreative, das Freie, das Positive dort zu bewahren und zu fördern. Das Internet ist aber auch kein Raum für die Macht oder Kontrolle weniger. Auch seine Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit anderer beschneidet. Daher braucht auch das Netz Regeln, gesetzliche oder auch vereinbarte. Wir brauchen neue digitale Vereinbarungen, die nicht den herkömmlich analogen Logiken alleine folgen können. Das Eine tun, ohne das Andere zu lassen. Das ist ein wichtiger Lernprozess, den wir in Zusammenarbeit mit Netzaktivisten gehen werden. Die Debatte darüber – auch über Fragen der Netzneutralität – hat gerade erst begonnen.“

Und: „Eine zentrale Aufgabe wird es sein, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit insbesondere im Internet sicherzustellen. Die notwendige Diskussion werden wir auch mit Netzaktivistinnen und Netzaktivisten sowie der ‚Blogosphäre’ führen. Eine Zensur des Internets ist keine Lösung. Wo sie droht, räumen wir Datenschutz und Bürgerrechten einen höheren Stellenwert ein.“

Das eine tun, ohne das andere zu lassen? Klingt kryptisch, ist es aber nicht. Bereits im Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 13. Juni, der seinerzeit zum Sperrgesetz in Form eines Spezialgesetzes führte, hatte es – unter Zuruf an die Netz-Community auf Einbindung – ganz ähnlich geheißen:

„Dabei gilt es, das Internet als Raum der Kommunikation, der Diskussion und des Wissens zu erhalten und zu schützen. Das Internet stärkt die Entfaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen von uns ebenso wie die weltweite Entwicklung demokratischer Inhalte. Wir kämpfen auf internationaler Ebene gegen die Zensur des Internets und wollen sie auch nicht in Deutschland. Dabei gilt es, das Internet als Raum der Kommunikation, der Diskussion und des Wissens zu erhalten und zu schützen. Das Internet stärkt die Entfaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen von uns ebenso wie die weltweite Entwicklung demokratischer Inhalte. Wir kämpfen auf internationaler Ebene gegen die Zensur des Internets und wollen sie auch nicht in Deutschland.“

Wie sich die SPD zu Internetsperren tatsächlich verhält, könnte sie auf dem Dresdner Parteitag beweisen. Doch stehen die Vorzeichen dazu ungünstig. Ein Antrag „Keine Indizierung oder Sperrung von Internetseiten“ (I 12) des Bezirks Hessen-Süd – von diesem auf dem Bezirksparteitag am 19./20. Juni 2009 beschlossen (Antrag E 6) und in der Tragweite über die seinerzeitigen Beschlüsse auf Bundesebene hinausgehend – wird von der Antragskommission des Bundesparteitages als durch ebenjenen Beschluss des Parteivorstands vom 13. Juni 2009 als erledigt zu betrachten empfohlen. Ein zweiter Antrag mit dem Titel „Gegen eine Zensur des Internets, für ein entschlossenes wirkungsvolles Vorgehen gegen Kinderpornographie“ (I 11) – vorgelegt von der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD und versehen mit der Forderung nach „sofortige[r] Rücknahme des am 18.06.2009 vom Bundestag beschlossenen Zugangserschwerungsgesetzes“– erhält von der Antragskommission lediglich die Empfehlung einer Überweisung an den Parteivorstand. Eine Korrektur der Zustimmung zum Gesetz wäre damit vom Tisch.

Sollte es bei dieser Parteitagsregie bleiben, hätte das zum Ergebnis, dass die SPD in Sachen Internetsperren noch hinter die Vereinbarungen von Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag (siehe hier) zurückfiele. Darüber würde dann auch nicht ein von der SPD-Antragskommission zur Annahme empfohlener Antrag zur Netzneutralität (M 2) hinweghelfen. Enthält dieser doch keine konkreten Vorgaben, wie Netzneutralität regulatorisch sicherzustellen ist.

Zum Schluß noch einmal zur Wortwahl des Leitantrags: Die Redewendung Das eine tun, ohne das andere zu lassen transportiert – ob gewollt oder nicht – einen unterschwelligen Subtext. Das belegt die biblische Herkunft aus dem Matthäus-Evangelium – nachfolgend wiedergegeben nach den Weherufen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer in der Einheitsübersetzung:

„Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen.“ (Mt 23, 23)

Wie heißt es so schön: Shame to him who thinks evil of it! Nein, ein Weheruf an die Netz-Community ist das wohl kaum. Doch es zeigt: Die SPD ist immer noch nicht in der digitalen Welt angekommen. Die Parteiführung sucht das Seelenheil.

Ein Kommentar zu “SPD-Leitantrag: Das Internet ist ambivalent, das Seelenheil biblisch”

  1. […] SPD erfindet bekanntlich die Netzpolitik momentan neu. Nachdem der Dresdner Parteitag (wir berichteten) noch Mitte November das Internet als ambivalent bewertet hatte, werden nun nahezu täglich […]