Der nachfolgende Beitrag ist eine überarbeitete Fassung einer von der Fraktion DIE LINKE in die Projektgruppe Netzneutralität der Bundestags-Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ eingereichten Stellungnahme. Letztere galt einem aus den Reihen der Projektgruppe dargebrachten Textvorschlag zum Gliederungspunkt „Klärung der Potenziale für den Arbeitsmarkt“, in dem unter Bezugnahme auf unten genannte Studien negative Beschäftigungseffekte (potentielle Arbeitsplatzverluste für den US-Markt in Höhe von 70.000 bis 1,45 Mio. Stellen) in Folge eines regulatorischen Eingriffs zum Erhalt der Netzneutralität abgeleitet wurden. Verbunden war der Textvorschlag mit dem Appell, die Enquete-Kommission möge keine Empfehlungen zur Netzneutralität ohne Berücksichtigung negativer Beschäftigungswirkungen aussprechen. Inzwischen wurde der Textvorschlag erheblich überarbeitet, der Appell allerdings aufrechterhalten. Die Projektgruppe hat darüber noch nicht entschieden.
Das Internet als Universal-Infrastruktur (1) dient Transport, Produktion und Distribution einer Vielzahl von Gütern, darunter kommerzielle, öffentliche und nicht vom Markt bestimmte Güter. Es ist nicht allein physikalische Infrastruktur, sondern generiert ebenso auf der Ebene der logischen Infrastruktur, der Applikationen und der Inhalte Wohlstandsgewinne und entsprechende Beschäftigungseffekte.
Ähnlich wie im Falle der traditionellen Infrastrukturen Energie, Verkehr, Telefonie erfolgt – volkswirtschaftlich betrachtet – die maßgebliche Wirtschaftsleistung an den Endpunkten der Internet-Infrastruktur. Die Wirtschaftsleistung zum Unterhalt der physikalischen Infrastruktur bildet demgegenüber eine Residualgröße.
Aus diesem Grund muss eine Betrachtung potenzieller Beschäftigungseffekte auf Basis des Innovations- und Arbeitsmarktpotenzials der noch weitgehend erhaltenen End-to-end-Architektur (i.e. eine diskriminierungsfreie Leitwegsbestimmung und Paketlenkung) erfolgen. In zeitlicher Fortschreibung sind Wirtschaftsleistung und daraus resultierende Beschäftigungseffekte zunächst auf den genannten Ebenen an den Endpunkten zu bestimmen. Von dieser Größe sind anschließend eventuell negative Beschäftigungseffekte, wie sie aus einem regulatorischen Eingriff zum Erhalt der Netzneutralität resultieren könnten, auf der Ebene des Unterhalts der physikalischen Infrastruktur zu subtrahieren.
Ersteres fehlt in den Darlegungen zu „Klärung der Potenziale für den Arbeitsmarkt“ bislang vollständig. Für letzteres sind die vorgelegten Studien von Stratecast (2), Bazelon (3) und Davidson/Swanson (4) denkbar ungeeignet. Sie stammen entweder unmittelbar aus der Feder von für die US-Telekommunikationsindustrie und -Netzwerkhersteller tätigen Consulting- und Strategieberatungsunternehmen wie Stratecast (A Division of Frost & Sullivan) und The Brattle Group (Bazelon) oder von diesen nahe stehenden Autoren wie Davidson/Swanson (5).
Der sich aus dieser Nähe zu entscheidenden Industrieakteuren in der Debatte um Netzneutralität abzeichnende Spin setzt sich im methodischen Design der Studien fort. Ihnen ermangelt es den grundlegenden Kriterien wissenschaftlicher Reproduzier- und Validierbarkeit. Beispielsweise beruhen die Zahlen von Stratecast nicht auf einem ökonometrischen Modell, sondern auf einer informierten Abschätzung („informed estimation“) – auf Grundlage von vertraulichen Angaben mehrerer mit Frost & Sullivan zusammenarbeitenden Netzbetreiber, wie es an maßgebender Stelle in der Studie heißt. Entsprechend sprudeln hinten Befunde in Zahlen heraus, deren Ausgangs- und Multiplikatorwerte vorne nicht nachvollziehbar sind.
Ähnlich problematisch, wenngleich im Ausweis der Zahlengrundlagen klarer, verfährt Bazelon. Er nimmt im Falle einer Regulierungsvorschrift eine Reduktion der Ausgaben im Breitbandsektor von jährlich 18% bis zum Jahr 2020 an. Die Prozentzahl ist aus einer weiteren Studie übernommen. In dieser wurde eine Abschätzung von Wachstumseffekten im Falle einer Deregulierung auf dem US-amerikanischen DSL-Markt versucht. Der Wert 18% ergab sich dort aus einem Zurückbleiben im Wachstum von Kundenabonnements im regulierten DSL-Markt gegenüber solchen auf dem nicht regulierten Kabelnetzmarkt.
Davidson/Swanson schließlich legen den von ihnen abgeleiteten negativen Beschäftigungseffekten vier Szenarios zu Grunde. Infolge einer regulatorischen Verpflichtung zur Netzneutralität werden Investitionsrückgänge in die Netzinfrastruktur von minus 10% bis minus 40% angenommen. Dies zeitigt entsprechende Folgewirkungen. Als Begründung für die Realitätssinn ihrer Annahmen verweisen sie lediglich plakativ auf die Folgen der Dot-Com-Krise 2000–2003. In dieser sei es zu einem Rückgang der Investitionen in Netzwerkinfrastrukturen und -ausrüstungen um 35,6% gekommen.
Fazit: Potenzielle Beschäftigungspolitische Implikationen von Netzneutralität können nicht ohne eine Betrachtung der Herkunft, der methodischen Tragfähigkeit und der inhaltlichen Plausibilität von den in den Studien genannten Befunden bewertet werden. Die zahlenmäßigen Dimensionen selbst resultieren aus unzureichenden methodischen Grundannahmen. Vor allem aber dürfen Beschäftigungseffekte nicht aus einer Folgebewertung auf der Ebene der physikalischen Infrastruktur allein abgeleitet werden, sondern müssen in Relation zu solchen auf den Ebenen logische Infrastruktur, Applikationen und Inhalte gesetzt werden.
1. Siehe hierzu Frischmann, Brett M.: An Economic Theory of Infrastructure and Commons Management. Minnesota Law Review 89 (April 2005). S. 917-1030; Schewick, Barbara van: Internet Architecture and Innovation. Cambridge (Mass.), London 2010.
2. Stratecast (A Division of Frost & Sullivan): Net Neutrality: Impact on the Consumer and Economic Growth. Consumer Communication Services 4/13. May 2010.
3. Bazelon, Coleman (The Brattle Group, Inc.): The Employment and Economic Impacts of Network Neutrality Regulation: An Empirical Analysis. April 23, 2010.
4. Davidson, Charles M./Swanson, Bret T.: Net Neutrality, Investment & Jobs: Assessing the Potential Impacts of the FCC’s Proposed Net Neutrality Rules on the Broadband Ecosystem. New York: The Advanced Communications Law & Policy Institute at New York Law School, June 2010.
5. Swanson war vormals Mitarbeiter des von der US-Telekommunikationsindustrie getragenen, inzwischen eingestellten, neoliberalen Think Tank „Progress and Freedom Foundation“. Er unterhält heute eine eigene Strategieberatungsfirma namens „Entropy Economics“. Davidson ist Director des Advanced Communications Law & Policy Institute (ACLP) an der New York Law School, deren Herkunftsangabe die Studie trägt. Zuvor war er, ernannt von Gouverneur Jeb Bush, als Leiter der Regulierungsbehörde für Telekommunikation, Energie und Wasser des Staates Florida tätig.