Am 19. September steht im Rechtsausschuss des Bundestages eine Anhörung zu verwaisten Werken auf der Tagesordnung. Anlass sind die beiden Gesetzentwürfenvon SPD und LINKE sowie der entsprechenden Antrag der Grünen zum Thema, die Anfang des Jahres eingebracht wurden. Inzwischen gibt es dazu auch einen Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission.
Der Richtlinienvorschlag geht in seiner Grundausrichtung von einem Schrankenmodell aus, wie es auch der Gesetzentwurf der LINKEN (und in teilen der Antrag der Grünen) vorsieht. Eine solche Schranke wäre eine Ausnahmeregelung, die Bibliotheken und anderen gemeinnützigen Einrichtungen die öffentliche, digitale Zugänglichmachung von Werken, deren Urheber verschollen bzw. nicht ausfindig zu machen sind, qua Gesetz ermöglichen würde. Das Prinzip dahinter ist dasselbe wie bei allen Schrankenregelungen. Grundsätzlich wird von einem Verbotsrecht des Urhebers ausgegangen. Er soll über seine Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und das der öffentlichen Zugänglichmachung, selbst verfügen können. In bestimmten Fällen, für die ein öffentliches Interesse besteht, ist dieses Verfügungsrecht jedoch eingeschränkt. Deshalb heißen diese Ausnahmeregelungen Schranken. So dürfen beispielsweise Bibliotheken Bücher verleihen, ohne die Autoren vorher um Erlaubnis fragen zu müssen. Bibliotheken, so glaubt man, tun was Gutes für die Allgemeinheit, also bekommen sie bestimmte Ausnahmerechte.
Das System von Verbotsrechten des Urhebers in Kombination mit Schranken zugunsten der Interessen der Allgemeinheit ist als System des Interessenausgleichs im europäischen Urheberrecht fest verankert. Solange keine grundlegende Urheberrechtsreform angedacht ist, die die Interessen von Nutzern, also der Allgemeinheit, nicht nur als Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbotsrecht der Urheber behandelt, muss sich eine Regelung, die verwaiste Werke für die Öffentlichkeit zugänglich machen will, an dieser Systematik orientieren.
Die Lizenzlösung, die Börsenverein, VG Wort und SPD sich wünschen, macht genau das nicht.
Wir erinnern uns: Verwaiste Werke sind solche, deren Urheber als unauffindbar gelten. Folglich kann es bei einer Vergabe einer Veröffentlichungslizenz gegen Vergütung grundsätzlich nicht mit rechten Dingen zugehen. Denn wer soll da eine Erlaubnis erteilen bzw. Geld bekommen, wenn doch derjenige, der dazu berechtigt wäre, nicht auffindbar ist? Man kann sich da allerlei Hilfskonstrukte ausdenken. So etwa, dass eine Verwertungsgesellschaft sich anmaßt, die Erlaubnis zu erteilen. Die Vergütung würde dann auch an diese Verwertungsgesellschaft fließen, die sie an den Urheber weiterleiten müsste, falls der wider Erwarten doch noch auftauchen sollte. Aber solchen Hilfskonstrukten haftet immer etwas Willkürliches an. Der einzige saubere Weg, bei dem es ohne Rechtsanmaßung abgeht, besteht in einer Schrankenregelung. Denn sie ermöglicht, Nutzungen zu erlauben, ohne dass vorher um Erlaubnis gefragt werden muss. Wenn niemand da ist, den man um Erlaubnis fragen könnte, wie eben bei verwaisten Werken, ist das eigentlich eine logische, naheliegende Lösung.
Zugegebenermaßen gab es bis vor Kurzem noch ein gutes Argument dagegen: dass nämlich auf nationaler Ebene keine Schrankenregelung eingeführt werden kann, die nicht zuvor in europäisches Recht umgesetzt wurde. Seit jedoch die EU mit dem Richtlinienvorschlag selbst deutliche Zeichen setzt, dass sie das Problem der verwaisten Werke mit einer Schrankenregelung zu lösen beabsichtigt, sollte sich dieser Einwand erledigt haben.
Man fragt sich, warum Börsenverein, VG Wort und SPD trotzdem nach wie vor auf ihrem Linzenzmodell beharren, also auf einer Ermächtigung der Verwertungsgesellschaften zur Quasi-Lizenzvergabe. So scheint es zumindest, wenn man die Stellungnahmen der von den Fraktionen zu der Anhörung eingeladenen Experten liest. Auch wenn einige den Richtlinienvorschlag in ihren Ausführungen berücksichtigen, wird mehrheitlich ignoriert, dass es sich dabei um ein Schrankenmodell handelt.
Da der SPD-Gesetzentwurf beinahe deckungslgeich mit dem ist, was Verlage, Buchhandel und die VG Wort den Bibliotheken als Lösungsvorschlag für das Problem der verwaisten Werke aufgedrängt haben, kann man die Frage auch vereinfachen: Welche Interessen hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels (der in seiner Stellungnahme übrigens explizit darauf verweist, dass die VG Wort sich mit ihm abgesprochen habe und der SPD-Entwurf den eigenen Vorschlägen weitgehend folgt), dass er so unbedingt auf einer Lizenzregelung beharrt und gegen eine Schrankenlösung kämpft?
Die Antwort findet sich in der Stellungnahme des Börsenvereins selbst. Nämlich dort, wo Justitiar Christian Sprang über „teilverwaiste Werke“ spekuliert. Das tut er nicht zum ersten Mal. In ähnlicher Weise hat er sich bereits im vergangenen Jahr bei der Anhörung des Bundesjustizministeriums geäußert – und zweifellos seither immer wieder bei zahllosen Lobbyveranstaltungen. Es wird Zeit, sich dieses kühne Konstrukt einmal näher anzusehen.
Verwaiste Werke, schreibt Sprang, seien „im Buchbereich selten, weil nur bei weniger als 5 Prozent der urheberrechtlich geschützten Bücher in Bibliotheksbeständen die Verlagsrechte nicht bei einem noch existierenden Verlag liegen. Für den wesentlich relevanteren Fall vergriffener Bücher, bei denen der Verlag keine online-Rechte besitzt und/oder den Kontakt zum Autor bzw. dessen Rechtsnachfolgern verloren hat (‚teilverwaiste Werke‘), gibt es bereits konkrete Lösungsansätze, an denen u.a. der Börsenverein intensiv mitarbeitet. Es erscheint sinnvoll, die Problematik der ‚echten‘ verwaisten Werke von derjenigen ‚teilverwaister‘ Werke zu trennen und bei letztere auf freiwillige Regelungen der Beteiligten zu setzen.“
Zugegeben, verlässliche Zahlen über verwaiste Werke zu finden, ist nicht leicht. Aber die British Library geht davon aus, dass 40% der Bücher in ihren Regalen verwaist sind. Die EU meint, dass die Zahlen für den Rest Europas ähnlich sind. Und dann sollen es in Deutschland weniger als 5 Prozent sein? Das ist Unfug. Ein Buch ist dann verwaist, wenn der Rechteinhaber nicht mehr auffindbar ist. Der Rechteinhaber ist in der Regel der Autor. Ein Verlag ist es nur dann, wenn der Autor diesem die Rechte übertragen hat. Kann der Verlag dies nachweisen, ist das Werk auch nicht verwaist. Kann er es nicht, so geht man automatisch davon aus, dass das Recht beim Autor liegt. Denn das Urheberrecht hat nach herrschender Meinung die Tendenz, beim Urheber zu verbleiben. Zu behaupten, viele Bücher seien nur „teilverwaist“, weil es die Verlage noch gebe, ist so, als würde man sagen, viele Filme seien nicht verwaist, weil sie irgendwann mal im Fernsehen gelaufen seien und es die Fernsehsender immer noch gebe.
Bei der Diskussion um verwaiste Werke geht es in erster Linie um Digitalisierungsrechte, vor allem um das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung, landläufig Online-Recht genannt. Werke, die heute als verwaist gelten, sind in der Regel mindestens 50 Jahre alt. Vor fünfzig Jahren hat jedoch noch kein Autor seinem Verlag irgendwelche Digitalisierungsrechte übertragen. Auch Buyout-Verträge, wie sie heute üblich sind, waren damals noch nicht verbreitet. Die Autoren haben also in der Regel nicht alle Rechte inhaltlich, räumlich und zeitlich unbegrenzt an den Verlag übertragen, sodass auch eine Übertragungsfiktion (im Sinne des §137l) ausscheidet. Für die überwiegende Mehrzahl verwaister Werke im Buchbereich gilt vielmehr, dass die Verlage heute über keine Rechte daran verfügen. Schon gar nicht über Onlinerechte. Solche Werke sind also, wenn der Autor nicht auffindbar ist, nicht „teilverwaist“, wie Herr Sprang es gerne hätte, sondern volle Kanne verwaist. Da hat der Verlag gar nichts mehr zu melden.
Und genau hier liegt des Pudels Kern. Natürlich passt es dem Börsenverein nicht, dass sich plötzlich, rein technisch gesehen, jede Menge Verwertungsmöglichkeiten für Texte ergeben, an denen die Verlage nichts verdienen, weil sie keine Rechte daran haben. Entsprechend hängt nun alles davon ab, ob es gelingt, die Politik vom Gegenteil zu überzeugen. Ob man also glaubhaft machen kann, doch noch irgendwelche Rechte an allerlei verwaisten Werken zu halten, ohne dies freilich im Einzelfall nachweisen zu müssen. Denn nur dann kann man einen Anspruch auf Zahlungen der Bibliotheken und sonstiger Nutzer erheben.
Deshalb will der Börsenverein auch keine Schrankenregelung, sondern eine Lizenzlösung über Verwertungsgesellschaften. Nur auf diesem Umweg kann er sich gewissermaßen Rechte unter den Nagel reißen, die er sonst unwiederbringlich verloren geben müsste. Das Gerede von „echten verwaisten Werken“ und „teilverwaisten Werken“ soll nur davon ablenken, dass der Börsenverein hier versucht, im großen Stil eine Rechtsanmaßung durchzusetzen. Wenn man erst einmal durchgesetzt hat, dass die Nutzung verwaister Werke von der Genehmigung einer Verwertungsgesellschaft abhängt und vergütungspflichtig sein muss, ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Umverteilung der aus öffentlichen Kassen finanzierten Gebühren in die Taschen der Verlage.
Gleichzeitig sieht sich die LINKE nun dem Vorwurf ausgesetzt, sie wollte Rechteinhaber „enteignen“, weil ihr Vorschlag einer Schrankenregelung beinhaltet, dass eine genehmigungsfreie und in der Regel vergütungsfreie Nutzung möglich sein soll, falls die Rechteinahber an den Werken nicht ermittelt werden konnten. An nicht auffindbare Urheber für die Nutzung ihrer Werke nichts zu zahlen, ist eine Sache, bei der zu fragen ist, wer hier nun realiter enteignet wird. Eine andere ist es, Vergütungen, die diesen Phantomen zustehen sollen, in die Taschen von Verlegern umzuleiten.