Bei Anhörungen zum Urheberrecht wundert man sich oft, warum sich so wenige Urheber blicken lassen. Außer es geht, wie gestern beim Bundesjustizministerium, um das Thema „Verwaiste Werke“. Dann liegt es in der Natur der Sache, dass die Hauptbetroffenen nicht auftauchen.
Verwaiste Werke sind solche Texte, Bilder, Musikstücke oder Filme, die zwar noch vom Urheberrecht geschützt sind, bei denen man jedoch nicht weiß, wer eigentlich die Rechte daran hält. Weil die Schutzfristen noch lange nicht abgelaufen sind, während die Werke selbst schon längst nicht mehr auf dem Markt sind, verliert sich mit der Zeit die Kette der Erben. Die Folge: Niemand traut sich, solche Werke wieder zugänglich zu machen, auch wenn das im Digitalzeitalter weit einfacher wäre als noch zu früheren Zeiten. Denn wenn doch ein Erbe wieder auftaucht und Schadensersatzansprüche geltend macht, kann es richtig Ärger geben.
Deshalb schlummern zahllose Fotos, Filme und Bücher ungenutzt in den Archiven. Die deutschen Bibliotheken und sonstigen Kultureinrichtungen würden aber gern ihre Bestände digitalisieren und in die Europeana einspeisen, eine Art digitales Kulturmuseum, das seit Jahren vor sich hindümpelt. Auch die Deutsche Digitale Bibliothek, geplanter Ableger der Europeana, kommt nicht in Gang (wir berichteten). Warum, dazu gibt es verschiedene Meinungen. Weil nicht genügend Geld zur Verfügung steht, sagen die einen. Weil die Bibliotheken es organisatorisch nicht auf die Reihe bekommen, zu digitalisieren und die Dateien auch tatsächlich zur Verfügung zu stellen, sagen die anderen. Weil die rechtliche Lage ungeklärt ist, sagen der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Verwertungsgesellschaft WORT.
Robert Staats von der VG WORT und Christian Sprang vom Börsenverein stehen deshalb seit geraumer Zeit beim Gesetzgeber auf der Matte, um eine gesetzliche Regelung für verwaiste Werke durchzudrücken. Eine, die ihnen in den Kram passt. Dafür haben sie zunächst die sogenannte Literaturkonferenz vorgeschickt, eine Art Lobbyabteilung der VG Wort, die gegenüber der Politik stets jene Interessen vertritt, die der Börsenverein aus taktischen Gründen nicht auf seine alleinige Kappe nehmen mag. Zwei konkrete Formulierungsvorschläge für neue Paragraphen im Gesetz hat diese Konferenz, die unter derselben Adresse firmiert wie die VG WORT, bereits im Oktober 2009 vorgelegt. Weil das Justizministerium darauf nicht sofort reagiert, sprich noch keinen Gesetzentwurf vorgelegt hat, ist mittlerweile der Druck verstärkt worden: „Die Politik muss jetzt handeln!“ drängelt der Deutsche Kulturrat in einer Resolution vom 4. Oktober und legt mit einem dritten Paragraphen nach. Der Deutsche Kulturrat ist weniger vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels abhängig als die VG WORT, vertritt jedoch in aller Regel keine Positionen, die von jenen abweichen würden, auf die sich Verleger- und Gewerkschaftsvertreter in den Verwertungsgesellschaften im Vorhinein geeinigt haben. Eine Stellungnahme des Kulturrats ist immer ein klares Signal an die Politik, dass es gegen die politische Durchsetzung der entsprechenden Partikularinteressen keine Einwände geben wird.
Was spricht gegen eine gesetzliche Regelung für verwaiste Werke? Nichts. Im Gegenteil. Man bräuchte den Bibliotheken und Archiven bloß zu erlauben, Werke, deren Urheber oder Rechteinhaber mit vertretbarem Aufwand nicht zu ermitteln sind, im Rahmen ihres Kultur- und Bildungsauftrags dennoch der Öffentlichkeit in digitalisierter Form zur Verfügung zu stellen. Urheberrechtlich wäre das auf europäischer Ebene über eine Schrankenregelung möglich.
Aber daran würde niemand etwas verdienen. Das wiederum schmeckt jenen, die derzeit dem Bundesjustizministerium die Gesetze in die Feder diktieren, überhaupt nicht. Wenn es nach Staats und Sprang geht, sollen demnächst die Verwertungsgesellschaften das Recht zugesprochen bekommen, für digitale Nutzungen von verwaisten Werken Lizenzgebühren zu kassieren. Aufgebracht werden muss dieses Geld vornehmlich von den Archiven und Bibliotheken, also jenen Einrichtungen, die durch ihre Tätigkeit überhaupt erst dafür sorgen, dass die Werke nur verwaist und nicht glatt verschollen sind. Einrichtungen, die von der öffentlichen Hand finanziert werden. Warum auch der Deutsche Bibliotheksverband den Plan unterstützt, ist deshalb schlichtweg unverständlich.
Spannend wird die Frage, wie das Geld verteilt werden soll. Börsenvereins-Justitiar Sprang legte in der gestrigen Anhörung noch einmal besonderen Wert auf die Feststellung, dass im Buchbereich nur ein sehr geringer Teil der Werke tatsächlich verwaist sei. Denn selbst wenn die Autoren oder ihre Erben nicht mehr auffindbar seien, gebe es doch noch die Verlage. Was dahinter steckt, ist klar: Die Verleger möchten über die VG Wort Geld kassieren für Rechte, über die sie gar nicht verfügen. Denn das Recht zu digitalen Veröffentlichungen ist ein anderes als das Druckrecht und kommt in jahrzehntealten Verlagsverträgen gar nicht vor. Entsprechend dürfte die VG WORT den Verlagen für solche Nutzungen auch kein Geld zahlen. Trotzdem soll ein Großteil des Geldes in ihre Taschen fließen, während die Autoren und ihre Erben in aller Regel leer ausgehen werden, weil sie nicht auffindbar sind.
Äußerst problematisch sind auch die Rechtsfiktionen, die die Lobbyisten im Gesetz verankert sehen möchten. Denn natürlich kann man keine echten „Lizenzen“ verkaufen, wenn man die Rechte vom Urheber gar nicht erworben hat. Wenn dieser oder seine Erben jedoch verschollen sind, woher dann nehmen und nicht stehlen? Die Antwort der Lobbyisten darauf lautet: stehlen, aber sich den Diebstahl gesetzlich absichern lassen. Sie wollen, dass bei nicht-auffindbaren Urhebern eine gesetzliche Rechteübertragungsfiktion eintritt, dass also so getan wird, als hätte der Urheber der Verwertungsgesellschaft seine Rechte übertragen – ob er es nun tatsächlich getan hat oder nicht. Entsprechendes soll für vor 1966 erschienene Werke gelten, die zwar nicht verwaist, jedoch vergriffen sind. Zwar können die Betroffenen widersprechen, aber dazu müssten sie erst einmal davon erfahren, dass die Verwertungsgesellschaft Geld mit ihren Arbeiten verdient. Es handelt sich also um eine groß angelegte Enteignung jener Urheber, die sich naturgemäß nicht dagegen wehren können, weil sie nicht auffindbar sind.
Es ist lange her, dass man derart erstaunliche Vorschläge vernehmen durfte. Würden sie Realität, hätten sie nicht zuletzt beträchtliche Auswirkungen auf die gesamte Online-Welt. Denn die von Literaturkonferenz und Kulturrat vorgeschlagenen gesetzlichen Regelungen würden ihrem Wortlaut zufolge nicht nur für Bücher gelten, sondern auch für Fotos, Texte oder Musikstücke, die im Internet veröffentlicht sind. Kommerzielle Unternehmen dürften diese Werke ohne Genehmigung der Künstler wirtschaftlich verwerten, beispielsweise in Form von Datenbanken oder kommerziellen Download-Portalen. Sie müssten lediglich nachweisen, dass sie die Urheber in drei, vier oder fünf Verzeichnislisten der Verwertungsgesellschaften nicht finden konnten. Und sie müssten natürlich eine Abgabe an die Verwertungsgesellschaften zahlen.
Je wichtiger digitale Verwertungsformen werden, desto begieriger werden die Blicke, die die traditionellen Verwertungsgesellschaften auf das Netz werfen. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie schnell es passieren kann, dass die Zuordnung eines im Internet veröffentlichten Textes, Fotos oder Musikstücks zu einem bestimmten Urheber nicht möglich ist, wird deutlich, dass Zahl der „verwaisten Werke“ sich in Zukunft rasant vervielfältigen wird. Die Frage wird sein: Sollen diese Werke dann allen „gehören“, sprich der Allgemeinheit zugänglich sein? Oder sollen sie den traditionellen Verwertungsgesellschaften gehören?
Eins muss man dem Deutschen Kulturrat lassen: Er hat sich klar positioniert. Wer selber online veröffentlicht, wird sich in Zukunft aktiv wehren müssen, um nicht als „verwaist“ kategorisiert zu werden und somit seine Online-Verwertungsrechte an VG WORT, GEMA oder VG BildKunst zu verlieren.
Deutschland ist durchaus nicht der einzige Staat mit diesem Ansatz. Allerdings sollen die Verwertungsgesellschaften ja gerade deshalb kassieren, um den Urhebern, sollten sie doch noch auftauchen, das Geld auch geben zu können. Würden verwaiste Werke direkt der Allgemeinheit zukommen – DAS wäre doch viel eher Enteignung.
[…] Kenntnisstandes) von den Problemen die Rede. Auch die Anhörung des Justizministeriums hat Schwierigkeiten deutlich […]
[…] Wer will, kann die verwaisten Werke dann nutzen — gegen Lizenzgebühren, versteht sich. Enteignungsphantasien nennt Ilja Braun die Gesetzesinitiative der drei großen Organisationen und schreibt: Was […]
[…] Mit den Hintergründen befasst sich auch Ilja Braun. […]