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Verwaiste Werke: Läuft die Schranke leer?

Über die Zugänglichmachung von verwaisten und vergriffenen Werken zerbrechen sich viele verschiedene Stakeholder seit geraumer Zeit den Kopf. Zunächst hatte die Deutsche Literaturkonferenz einen Lösungsvorschlag entworfen, den die SPD als Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht hatte. Parallel dazu hatte DIE LINKE eine Forderung der Wissenschaftsorganisationen aufgegriffen und sich für eine Schrankenregelung stark gemacht. Dann kam 2012 eine EU-Richtlinie, die von Gedächtnisorganisationen als nicht weitgehend genug kritisiert wurde, aber aus Sicht der LINKEN auch ihr Gutes hatte. Immerhin rückte damit eine Schrankenregelung in greifbare Nähe. Mittlerweile liegt ein Entwurf für eine Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht vor. Und er enthält beides: sowohl eine Schrankenregelung, nämlich für verwaiste Werke, als auch ein Lizenzmodell, nämlich für vergriffene Werke.
Grundsätzlich ist das erfreulich. Die vorgeschlagene Regelung ermöglicht es den Bibliotheken, sich auf Verwaiste Werke zu beschränken und auf die vergriffenen entweder zu verzichten oder eine separate Vereinbarung abzuschließen. Sie müssten dann nur an Rechteinhaber zahlen, die nachträglich wieder auftauchen, also nur dann, wenn sich herausstellt, dass eine bestimmte Publikation doch nicht verwaist war.

Der Haken daran ist natürlich die „gründliche Suche“, die gefordert ist, um ein Werk als verwaist zu kategorisieren. Zwar soll es hierfür ein offen einsehbares Register geben, das mit der Zeit immer mehr anwachsen dürfte. Aber ob es für die Bibliotheken letztlich nicht doch einfacher sein wird, auf die „gründliche Suche“ zu verzichten, einfach die Gesamtbestände zu digitalisieren und pauschal für jedes Buch an die Verwertungsgesellschaft zu zahlen? Genau das legt das BMJ den Betroffenen in der Begründung zur Gesetzesänderung nämlich nahe: „In der Regel werden verwaiste Printwerke auch vergriffene Werke sein. In diesem Fall wird sich eine Institution entscheiden können, ob sie von der Schrankenregelung […] Gebrauch macht oder unmittelbar und ohne Durchführung einer sorgfältigen Suche eine Lizenzabrede mit der betroffenen Verwertungsgesellschaft über die Nutzung des jeweiligen Werks trifft.“

Das heißt nichts anderes als dass die Bibliotheken sich von der lästigen Pflicht einer gründlichen Suche nach eventuellen Rechteinhabern freikaufen können, wenn sie stattdessen eine Art Schutzgeld an die Verlage zahlen – obwohl die Verlage in den weitaus meisten Fällen gar nicht die Rechteinhaber sind. Warum aber soll einer Bibliothek die Suche nach dem einen Rechteinhaber erspart bleiben, wenn sie an den anderen einen Obulus entrichtet?

Dass verwaiste Werke in aller Regel auch vergriffen sind, ist zwar unbestreitbar. Es ist aber bedenklich, dass die Inanspruchnahme der Schrankenregelung für die Nutzung von verwaisten Werken mit Recherchekosten belastet ist, die im Zweifel so hoch sind, dass man lieber eine Lizenzgebühr für ein Rundum-Sorglos-Paket abdrückt. Es ist, nebenbei bemerkt, auch nicht im Interesse der Urheber verwaister Werke, die naturgemäß von diesem Geld nichts sehen. Und es ist nicht im Interesse jener, die gern ein Register verwaister Werke hätten.

Anders gesagt: Die vorgesehene Schrankenregelung droht leerzulaufen, ungenutzt zu bleiben, zugunsten einer privatwirtschaftlichen Lizenzlösung. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Wenn man verwaiste und vergriffene Werke unbedingt zusammen behandeln will, müsste man den Anteil der verwaisten Werken in den Beständen ermitteln, um eine solide Grundlage für eine realistische Berechnung der Zahlungen an die Rechteinhaber zu haben.

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